Es ist nicht so, dass wir nicht genügend Zeit hätten, oft nutzen wir sie nur nicht richtig

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Von Freiburg nach New York

Veröffentlicht von Holm Große (holm) am 27.10.2012
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22. September 2012
 
37. Deutscher Sparkassenmarathon in Freiburg im Breisgau
 
Endlich ist es soweit. Ich stehe hier in meine blaue Mülltüte gehüllt neben der Messe in Freiburg und warte mit knapp 1000 Marathonis und Halbmarathonis auf den Start. Pünktlich 8:30 Uhr soll der Startschuss fallen. Ich bin heute mindestens so nervös wie vor meinem ersten Marathon 2008 in Dresden. Von dem schönen Blick auf Schwarzwald und Vogesen keine Spur. Die Berge sind in tiefem Dunst gehüllt. Wenigstens regnet es nicht und die Temperaturen liegen etwas unter 15 Grad. Im Grunde genommen optimales Laufwetter. Wenn's heute mit der neuen Bestzeit nicht klappt, kann ich's zumindest nicht auf das Wetter schieben...
 
Ich aktiviere meine Garmin. Schnell wird der Satellit gefunden. Super! Ich bin nach wie vor froh, mir diese Uhr im Frühjahr angeschafft zu haben. So kann ich ständig meine Geschwindigkeit ablesen und muss nicht bei jedem Kilometer rechnen.
 
Mein Freund Alex und ich verabschieden uns mit einem Kuss. Toi, toi, toi und guten Lauf. Er reiht sich wesentlich weiter vorn ein, denn auch er will heute seine Bestzeit unterbieten. Ich stelle mich ins hintere Drittel des Starterfeldes. Als eher „langsame Schnecke“ im Feld will ich es mir ersparen ständig überholt zu werden. Das hat sich bei vergangenen Läufen bewährt. Auf den letzten Kilometern habe ich dann sogar noch Läufer überholt, die das Rennen entweder zu schnell angegangen sind (ein typischer Fehler, der mir auch zig-Mal passiert ist, allerdings nicht mehr, seitdem Holm mein Trainer ist) oder mit Krämpfen zu tun hatten.
 
Meine Rennstrategie für heute ist klar: Um unter 4:15 h zu laufen, muss ich 6 min pro Kilometer durchhalten. Damit müsste ich zwischen 4:12 h und 4:13 h ins Ziel kommen. Da zum Schluss immer die Kräfte etwas nachlassen und hier vor allem die zweite Hälfte einige Anstiege in sich birgt, will ich bis km 30 pro 10 km 1 min rauslaufen. D. h. bei 10 km will ich bei 59 min, bei 20 km bei 1:58 h und bei 30 km bei 2:57 h sein. Bis km 32 will ich versuchen, nicht langsamer als 6 min pro km zu laufen. Somit hätte ich für die letzten 10 km einen Puffer von 5 min. Na, hoffentlich geht meine Rechnung auf!
 
Dann endlich der Startschuss. Vorn hetzen alle los. Bis ich über die Startlinie laufe, vergehen ca. 1:30 min. Dann piept auch bei mir die Zeitmessung und ich starte meine Garmin. Nur nicht von dem Gehetze anstecken lassen! Nicht schneller als 5:45 min zu Beginn ist meine Devise. Das ist gar nicht so einfach, wenn alle gefühlt losrennen wie Haile Gebrselassie bei einem Weltrekordversuch.
 
Die beiden ersten km sind flach und auf Asphalt, schön zum Warmwerden. Laut Streckenprofil erwartet mich bis km 3 der höchste Punkt auf der Strecke. Es geht einen schmalen Parkweg bergan. Hier machen die ersten Läufer schon etwas schlapp. Wie gut, dass ich mein Training in der Dresdner Heide auf mehr Profil umgestellt habe. Mir macht der Anstieg nichts aus und da ich unter 6 min pro km bleiben will, überhole ich einige Läufer, indem ich über den Rasen an ihnen vorbeihaste. Bis km 10 geht es nun flachwellig teils über Wald- und Parkwege, teils auf Asphaltstraße voran. Ich fühle mich gut und kann meine Geschwindigkeit halten. Ich bleibe konstant unter 6 min und liege bei km 10 bei 58:19 min.
 
An jeder Verpflegungsstelle esse ich ein Stück Banane und trinke etwas Tee. Bei km 19 kommt mir der erste Marathoni entgegen. Er ist jetzt bereits bei km 27! Ich applaudiere ihm und den folgenden Läufern. Sehen die noch gut aus! Mir steht die große Waldrunde von 8 km noch bevor...
Bei km 20 gibt’s die erste Cola. Ihr Freiburger seid großartig! Ich schnappe mir gleich 2 Becher und wieder Banane. Diese beiden Energielieferanten haben sich in bisherigen Läufen bewährt. Nun kommt die Halbmarathonzeitnahme: 2:03:39 h. Hoffentlich ist das nicht zu schnell. Aber ich habe ein gutes Gefühl und glaube nicht zu schnell zu sein. Der Weg durch den Wald ist öde. Nur selten ein Streckenposten, der mich anfeuert. Zuschauer – Fehlanzeige. Nun gut, wir sind ja auch nicht beim New York Marathon. Wenigstens verliere ich nicht den Sichtkontakt zu vor mir Laufenden. So weiß ich, dass ich nicht allein unterwegs bin. Dann kommt bei km 25 eine Kehre, sodass mir auf ca. 1 km Länge Läufer entgegenkommen. Auch sie sehen vermeintlich noch frisch aus. Was die wohl über mich denken? Als ich die Kehre passiere, sehe ich aber noch eine Reihe von Läufern, die hinter mir sind – und das mit einigem Abstand. Das tut gut.
 
Weiter geht es durch den Wald und an Feldern vorbei. Bei km 28 kommt das erste Tief. Nun liegen meine km-Zeiten nur noch einen Hauch unter 6 min. Oje, jetzt noch nicht nachlassen! Halte durch bis km 32, erst dann ist das Langsamerwerden ok. Nun klingen mir Holm's Worte vom letzten Biergartentreff im Ohr: „Du musst dann beißen!“ Ich beiße, aber es fällt schwer. Bei km 30 spielt auf meinem MP3-Player nun genau das richtige Lied: Florence and the machine singt: „Shake it out“. Ich mag dieses Lied sehr und die Zeile „Shake it out the devil on your back“ passt jetzt wie die Faust auf's Auge. Ich schüttle den Teufel auf meinem Rücken ab und – beiße.
 
Die letzte Verpflegungsstelle erscheint mir ewig lange her. Wann kommt die nächste Cola? Nichts in Sicht. Ich fingere aus meiner Gesäßtasche meine Notration: einen Molkeriegel. Mmh, der tut gut. Dann bei km 31 endlich die nächste Verpflegung. Wieder greife ich nach 2 Bechern Cola, lege eine Minipause ein, um auch noch eine Banane zu fassen und meinen Schwamm zu wässern. Irgendwie fehlen mir 2 Hände, um alles gleichzeitig machen zu können. Die Pause macht sich sofort bei der nächsten km-Zeitnahme bemerkbar – 6:22, so'n Mist. Nun liegt vor mir ein gefühlt ewig langer Anstieg, um die Autobahn zu überqueren. Das tut weh. Glücklicherweise geht’s auf der anderen Seite auch wieder bergab. Km 32 laufe ich mit 6:02 min und km 33 mit 6:01min. Zwischen km 33 und 35 geht es leicht bergab entlang des Flüsschens Dreisam. Ich gebe noch einmal Gas und laufe bis km 35 wieder unter 6 min. Das beruhigt.
 
Ich weiß, dass nun die schwierigsten km auf mich warten. Bis km 39,5 wird es nun ständig bergan gehen. Wird mein Zeitpuffer reichen? Ich rede mir gedanklich Mut zu. Ich will es schaffen. Gedanklich formuliere ich eine SMS an Holm, Kirsten und alle anderen, die mir die Daumen drücken. Ich will niemanden enttäuschen und am allerwenigsten mich. Wozu habe ich in den letzten knapp 6 Monaten über 1000 Trainingskilometer geschrubbt? Beiß! Das Beißen fällt mir nun immer schwerer.
 
Kurz vor km 36 taucht Kai vor mir auf. Kai ist ein erfahrener Marathoni und läuft locker unter
3:30 h. Aber er hatte die letzten Tage mit Magen-Darm-Problemen zu kämpfen. Er ist wohl nur gestartet, damit die Männer ein Mannschaftsergebnis haben (3 Personen). Respekt Kai! Als ich ihn überhole, rufe ich ihm zu: „Häng dich ran an mich, Kai!“ Aber Kai kann nicht. Er tut mir leid.
 
Die nächsten km laufe ich nun deutlich über 6 min. Bei km 38,5 kommt der Hammer. Vor mir eine Rampe. Woher kommt denn dieser Anstieg? Die höchste Erhebung sollte doch bei km 3 gewesen sein. Keep cool! Und wenn ich nun mit 7 min dort hochlaufe, sollte der Zeitpuffer immer noch reichen. Nicht gehen! 6:21 min für den 39. Kilometer, 6:36 min für den 40. Nun ist das Schwierigste aber wirklich geschafft. Von km 40 bis 42 kommt nun die flache Strecke vom Start. Von Weitem kann ich schon das Ziel sehen. Erst jetzt bin ich mir sicher: Ich werde unter 4:15 h bleiben!!!
 
Am km 41 erwarten mich die ersten Teamkollegen. Danke, dass ihr da seid! Aber ich rufe ihnen zu: „Lauft Kai entgegen, er braucht eure Unterstützung heute mehr als ich.“ Einige 100 m weiter warten die nächsten. Auch sie schicke ich zu Kai. Ronny begleitet mich bis ins Ziel. 300 m vor dem Ziel warten die anderen und feuern mich an. Einige begleiten mich noch ein Stück. Schon hier reiße ich meine Arme hoch, weil ich weiß, dass ich meine neue Bestzeit schaffe. Nur noch 2 Kurven. Beim Einbiegen auf die Zielgerade freue ich mich riesig. Jubelnd absolviere ich die letzten Meter. Der Zielsprecher kündigt meinen Zieleinlauf an und als ich beim Überlaufen der Zeitmatte meine Uhr stoppe, kann er sich folgenden Kommentar nicht verkneifen: „So sind die Banker. Schon vor dem Ziel jubeln und dann auf der Ziellinie die Zeit stoppen.“ 4:12:42 h zeigt die Uhr an – geschafft! Freudestrahlend lasse ich mir die Medaille um den Hals hängen.
 
Die Teamkollegen kommen auf mich zu, gratulieren und freuen sich mit mir. Im Verpflegungszelt schlürfe ich heißen Tee. Der tut gut. Dann kommt auch Alex, der sich seine warmen Sachen in der Messe angezogen hat, und beglückwünscht mich zum tollen Ergebnis. Er selbst wirkt nicht so zufrieden, da es mit seiner Bestzeit leider nicht geklappt hat.Nun läuft auch Kai über die Ziellinie. Ich klopfe ihm auf die Schulter und zolle ihm großen Respekt für seine Leistung.
 
Nun aber ab ins Warme. Ich hole meinen Beutel und werfe meine Sachen über. Dann gönne ich meinen Beinen eine wunderbare Massage. Danach geht’s mit dem VW-Bus zurück in die Jugendherberge. Unterwegs sende ich eine SMS. Holm reagiert zuerst: „Ich bin sowas von stolz. Gratuliere und genieße!!“
 
Ja, ich bin auch stolz und ich genieße den Rest des Tages! Zuerst eine heiße Dusche in der Jugendherberge und dann noch einen kleinen Ausflug in die Freiburger Innenstadt. Schließlich will ich auch noch was von der Stadt sehen. Am ersten Dönerstand verzehre ich einen Döner, denn ich bin jetzt richtig hungrig. Am Rathaus lasse ich mich in einem Café nieder und bestelle mir einen großen Eisbecher mit Sahne und einen Latte Macchiato. Mir geht es soooo gut! Und vor allem: Mir tut nichts weh! Beim abendlichen „Fescht danach“ in der Messe schaffe ich es sogar noch zu tanzen. Dann bin ich aber eine der ersten, die mit zurück in die Jugendherberge fährt. Nach der schlaflosen letzten Nacht und dem aufregenden Tag überkommt mich nun doch die Müdigkeit.
 
 
Danke Holm für deine Unterstützung – ohne dich hätte ich dieses wunderbare Erlebnis nicht gehabt.
 

Zuletzt geändert am: 27.10.2012 um 14:30

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